Heißer Wind und schwarzer Staub stob um die langen Ohren der Blutelfe. Die Explosion in rund zweihundert Metern Entfernung riss dutzende Dämonen und Anhänger des Schattens mit sich in den Nether. Die Flugmaschine des Goblins knatterte, drehte, zu einer weiteren Runde ausholend. Wieder krachte es in einiger Entfernung, Hitze glühte bis auf die Haut der ehemaligen Blutritterin, eine meterhohe Säule aggressiven Feuers reckte sich in den dunklen Himmel. Grivlin verstand sein Werk. Anathera hatte es nicht anders erwartet. Immerhin hatte sie dem dreisten Grünohr einhundert Gold für dieses imposante Feuerwerk versprochen.
„Angriff!“, brüllte der Anführer der schwarzgewandeten Gestalten, die sich die Wissenden nannten. Alle Völker Azeroths schienen vereint unter dem dunklen Stoff: Nachtelfen, Menschen, Trolle, Orcs. Es waren dutzende, wenn nicht sogar hundert an der Zahl. Der kleine Schlachtzug setzte sich auf Befehl des bellenden Menschen unverzüglich in Bewegung, teilte sich in Gruppen, schwärmte aus. Zauberer positionierten sich auf den umliegenden Hügeln. Es war offensichtlich, dass sie einer Übermacht von Dämonen gegenüber standen. Eine Übermacht, die nur die Flugmaschine des Goblins mit ihrer explosiven Fracht für den Moment in Schach hielt. Und doch waren die schwarzen Kämpfer ohne Furcht. Blut spritze, besudeltes und rotes, als Dämon auf Wissenden traf.
Die glühenden Augen der Kriegerin machten sich nur kurz ein Bild über die Gemengelage. Entschlossen wanderte der Griff um den Knauf ihres elfischen Schwerts. Dann lief sie los. Sie war nicht allein. Eine zweite Elfe lief in unmittelbarer Nähe, zwei Kriegsgleven in ihren Händen, die Augen mit einer schwarzen Binde bedeckt. Ein kurzer Seitenblick zur Verständigung, ein knappes Nicken beiderseits. Sie kannten sich mittlerweile, wussten sich mehr oder minder einzuschätzen. Worte waren nicht vonnöten. Ein Umstand, der die Befreiung der Rothaarigen aus den Fängen des Zentaurenkhans mit sich brachte. Und die Zeit, die die beiden Elfen daraufhin miteinander teilten. Es war ein riskanter Alleingang der Dämonenjägerin gewesen, den Anathera mit ihrer kühlen Logik weder rechtfertigen noch verstehen konnte. Doch es gab ohnehin zu diesem Zeitpunkt nicht viel, das sie verstand. Sie verstand sich ja noch nicht einmal selbst.
Klirrender Stahl, Schreie. Letzte Zurufe, die noch im Blut der eigenen Kehle ertranken. Anathera kannte Schlachtenlärm nur zu gut. Er war ihr über die Jahrzehnte fast schon gleichgültig geworden. Doch dieses Mal war es anders. Diese Schlacht war die letzte Chance auf die Befreiung der gefangenen Rabenwächter. Sie konnte – nein - sie durfte nicht versagen. Nicht, nachdem sie mit ihrer Flucht aus dem Zelt des Zentaurenkhans die Wächter sich selbst überlassen hatte. Sie rannte. Die glühenden Augen fixierten sich auf ihr erstes Ziel. Ein Teufelswächter erhob sich knurrend vor einer Gruppe Wissender. „Achtung!“, brüllte einer von ihnen. Pfeile flogen, Magie wurde gewoben. Der Dämon schlug mit seiner mächtigen Faust nach den schwarz Bekleideten. Mit Erfolg. Eingedrückte Schädel und ein gebrochener Torso ließen zwei der Mitstreiter nicht mehr aufstehen. Nur noch wenige Meter trennten die Elfen von ihrem Ziel. Adrenalin rauschte in Anatheras Kopf. Wie ein Schatten wetzte die Dämonenjägerin ihr einen Schritt voraus, die Gleven zum Schlag bereit. Anathera setzte ihr nach. Geistesgegenwärtig wich sie einem weiteren Schlag des Dämons aus. Die Erde unter ihren Füßen schien zu brennen. „Bewegung, Anathera“, hallte die grollende Stimme ihres Vaters in ihrem Kopf. Ebenso wie der Faustschlag, der sie in jener Erinnerung ins Gesicht traf. Zornig hieb die Elfe nach dem Bein des Dämons aus. Die Klinge elfischen Stahls sank tief in das besudelte Fleisch und öffnete eine klaffende Wunde, die einen Schwall schwarzen Bluts über den Arm der Kriegerin ergoss. Ein dunkles Brüllen. Ein zorniges Stampfen mit dem gesunden Bein des Dämons folgte und drohte, die Knochen der Elfe unter ihm zu zermalmen. Die Rothaarige wirbelte herum. Ein scharfes Geräusch, ein Gurgeln. Anathera wich aus, schluckte schwarzen Staub, den der Aufprall des Hufs aufwirbelte. Noch während sie sich aufrichtete, sah die Elfe den Kopf des Teufelswächters von dessen Schultern rollen. Hinter ihm der Schatten einer Blutelfe, deren feurige Augen bedrohlich hinter der Augenbinde hindurch schimmerten. Dämonenblut tropfte dick von den Kriegsgleven der Jägerin herab. Eine erneute Explosion, die Anathera die roten Haare ins das verschmutzte Gesicht wehte. Kreischen, Brüllen um sie herum. Der nächste Kampf hatte begonnen, noch bevor der letzte geendet hatte. „Komm. Ich weiß, wo sie sind“, sprach die Blinde knapp, sprang von dem kopflosen Torso und führte Anathera weiter in das Zentrum der Schlacht hinein.
Das Gefängnis der Rabenwächter befand sich in den Resten einer Ruine. Dicke Säulen umsäumten den Innenraum und ließen keinen Blick auf ihn zu. Die Elfe konnte sie bereits sehen. Doch erreichen… Anatheras Kehle brannte von den heftigen Atemzügen, die sie mittlerweile angestrengt in ihre Lungen sog. Schwerthieb um Schwerthieb, Zauber um Zauber sah sie zwar Dämonen fallen, brachten sie und die Jägerin sie selbst zu Fall. Doch die Reihen der Schatten lichteten sich kaum. Zahllose Kämpfe tobten um die Elfen herum, Schreie Sterbender, das letzte Zischen dämonischen Atems erfüllten die Luft. Der Rauch der andauernden Explosionen machte das Atmen schwer. Sich gegenseitig flankierend hielten Anathera und die Dämonenjägerin den andauernden Kämpfen stand. Ein Tanz von Klinge und Gleve, ungleich und doch seltsam aufeinander abgestimmt.
Ein plötzliches Beben ließ die Erde erschüttern. Ein Hitzeschwall fegte über die Kämpfer der Schlacht, begleitet von dem Knattern einer Flugmaschine, die direkt über dem Gefängnis der Wächter herzog. Die rothaarige Elfe riss den Kopf unmittelbar herum, doch erspähte nur noch eine dicke Rauchwolke, die traurig in den dunklen Himmel hinaufzog. „NEIN!“, brüllte sie mit heiserer Stimme. „Grivlin! Du Idiot!“ Ein Satz in Richtung der Explosion, ehe die Jägerin Anathera an der Schulter zu sich zurückriss. „Das hat keinen Sinn“, sprach sie bestimmt. Die Rothaarige fuhr zu ihr herum, Tränen der Wut brannten in ihren Augenwinkeln. „Was ist, wenn die Explosion sie…?!“, setzte sie an, doch die Blinde schüttelte den Kopf. „Das Gefängnis ist von einer Barriere geschützt. Nichts kommt raus. …Und nichts kommt rein.“ Anatheras glühende Augen folgten misstrauisch dem Fingerzeig der Jägerin zum Gefängnis. Der Rauch hatte sich verzogen und offenbarte das Gebäude unversehrt. Doch etwas anderes erhob sich unmittelbar vor den scheinbar undurchdringlichen Mauern. Groß, weitaus größer als das Gefängnis selbst, schwer, ächzend. Ein Urtum hatte sich aus dem Nirgendwo mitten auf dem Schlachtfeld aufgebaut. Die knorrigen Auswucherungen schienen sich an der Befestigung des Gefängnisses zu schaffen zu machen. Die Augen der ehemaligen Blutritterin weiteten sich ungläubig. „Was zum Nether…“, keuchte sie aus. Der Höllenhund, der sie in eben jenem Moment anfiel, verfehlte ihre Schulter nur knapp. Ein Grollen entfuhr der Brust der Kriegerin. Ein geistesgegenwärtiger Tritt gen des angreifenden Dämons, ehe sie ihren Stahl in der Kehle der Bestie versank. Sie war schon zu lange unaufmerksam gewesen. Ein Fehler, den man sich auf dem Schlachtfeld nicht leisten konnte. „Aufmerksamkeit, Anathera. Tot nützt du niemandem mehr“, raunte wieder die dunkle Stimme ihres Vaters im Kopf. Sie würde ihn wohl niemals loswerden.
Plötzlich wurden Schreie lauter. Doch es waren nicht jene triumphierenden Schreie der Wissenden. Nicht jene Schreie, die man hören wollte. Es waren Schreie von Sterblichen, die abrupt verstummten. Viele Schwarzbekleidete fielen plötzlich, verloren ihren unerbittlichen Kampf gegen die Ausgeburten des Nethers. Eine merkwürdige, dunkle Wolke näherte sich mit rasender Geschwindigkeit. „Das ist schlecht“, murmelte einer der in der Nähe befindlichen Wissenden, den Blick starr auf die Wolke gerichtet. Und Anathera fiel auf, dass sie die Hitze von Explosionen schon seit einigen Minuten nicht mehr auf ihren Wangen gespürt hatte. Das vermisste Knattern der Flugmaschine ertönte von weitem, wurde zunehmend lauter. Grivlin steuerte geradewegs auf die beiden Elfen zu.
„Ladys, eure Leute sind soeben aus den Mauern Richtung Süden geflohen! Da hinten sieht es ganz schön hässlich aus!“, rief der Goblin ihnen aus der Luft zu.
„Dann flieht, Grivlin!“, warf ihm die Dämonenjägerin daraufhin entgegen.
„Und das Risiko eingehen, meinen uneingeschränkten Gefallen einzubüßen? Wohl eher nicht!“
Mit diesen Worten landete die Flugmaschine krachend zwischen den beiden Elfen. Anathera warf der Jägerin einen unsicheren Blick zu. Sie vertraute weder dem Goblin, noch der Technik, für die sie sich rühmten. Und so hielt sich die Rothaarige erbittert an ihrem Schwertknauf fest, die Augen immer noch auf das Schlachtfeld gerichtet, das sich zunehmend verdunkelte.
„…jetzt macht schon, bevor ich es mir anders überlege!“, blaffte der Grünling sie an.
Die Nasenspitze der Dämonenjägerin fixierte die Blutelfe vor sich. „Anathera“, ertönte ihre Stimme schließlich hinter der ehemaligen Blutritterin.
„Du wirst noch gebraucht.“
Das angestrengte Blinzeln der Rothaarigen verriet, dass die Worte der Jägerin einen wunden Punkt getroffen hatten. Der sture Griff um die Elfenklinge wurde weicher. Schließlich ließ sie es gänzlich sinken, wenn auch unter offensichtlichem inneren Protest. Ein Blick zu der Gruppe Wissender, die sich wohl für die letzte Welle Dämonen rüstete, die ihr entgegen schlagen sollte. „Geht!“, rief ihr der braungebrannte Mensch unter dem schwarzen Umhang zu. „Wir halten sie auf.“ Anathera glaubte ihm nicht. Doch mit den Gedanken an die Rabenwächter schien sie keine Wahl zu haben, außer der, ihnen auf der Flucht zu folgen. Ihr Platz war bei ihnen. Und sollte sie sterben müssen, würde sie im Kampf für sie sterben, nicht für eine Gruppe Namenloser. Es war ihre Pflicht, ein stummes Versprechen, das sie Lady Blutfeder in Hammerfall gegeben hatte. Zähneknirschend wandte sich die Blutelfe von den Kämpfern ab, kletterte widerwillig zu dem Goblin in die Maschine. Die Jägerin folgte ihr ohne jedes weitere Wort.
„Gute Entscheidung“, murmelte der Grünling garstig, während er den Motor startete. Unter einem recht ungesunden Ächzen erhob sich die Flugmaschine schließlich, wenn gleich sie auch nicht ganz die gewohnte Flughöhe zu erreichen schien. „Schäden am Flugobjekt werden extra in Rechnung gestellt!“ blabberte Grivlin noch vor sich hin, während er und die beiden Elfen das blutige Schlachtfeld knatternd hinter sich ließen.
Das Motorgeräusch der Flugmaschine erstarb stöhnend, als die Kufen auf sicherem Boden aufsetzten. Anathera und die Jägerin sprangen aus der Goblin-Maschine, die in der Nähe eines Trolldorfs landete. Schon von weitem konnten die Inassen der Flugmaschine eine Gruppe gemischter Vertreter der Horde erkennen, die sich um einen schwarzhaarigen Blutelfen versammelt hatte – eindeutig die befreite Miliz der Rabenwächter. Das Herz der Blutelfe sank mit einem Mal in die Magengegend, doch bewahrte die Maske der Emotionslosigkeit sie von jeglicher Mimik in diese Richtung. „Glück gehabt!“, kräkelte der Goblin in Richtung der beiden Elfen. Auch er stieg aus der Maschine, verpasste ihr einen leidenschaftlichen Klapps und watschelte dann die Erhebung zum Trolldorf hoch, ohne sich noch einmal nach ihnen umzusehen. Sein Teil der Arbeit war erledigt. Jetzt wollte er Gold sehen. Ein kurzer Seitenblick zur Jägerin, ehe die ehemalige Blutritterin dem Goblin folgte. Sie fürchtete sich vor der Begegnung mit den Rabenwächtern. Sie hatte sie im Stich gelassen. Sie hätte einfach in dem Zelt dieses Khans sterben sollen, so, wie es ihr wahrscheinlich vorbestimmt war. Denn nichts war je ohne Grund geschehen in dieser Welt. Ein erneuter Blick zu der Blinden, der sie ihr Leben verdankte. Doch die Jägerin schritt nur stumm neben Anathera her, Emotionslosigkeit in ihren Zügen.
Da standen sie sich nun gegenüber, Befreier und Befreite. Die Blutelfe blickte in die Augen des schwarzhaarigen Kommandanten. Dort stand er, wohlauf. Mehr oder weniger. Anathera konnte das Leid in seinem Blick erkennen, den das zerschlagene Gesicht ihr zuwarf. Threanors Bein war scheinbar gebrochen, denn er stand nur noch auf einem. Er stützte sich auf Wrug, einen bulligen Orc der Rabenwache. Ebenjener erhob zuerst das Wort, als Anathera, die Jägerin und Grivlin auf die befreiten Wächter trafen. „Das kommt wirklich…Unerwartet.“ Die Worte des Orc trafen die Blutelfe wie ein Schlag ins Gesicht. Es war also so, wie sie erwartet hatte. Die Rabenwächter hielten sie für einen Deserteur. Eine Zukunft in ihren Reihen war somit undenkbar. Ein leises Seufzen, ehe die Kriegerin dennoch den purpuroten Gesichtsschutz abnahm, ihr Haupt förmlich vor den Wächtern neigte.
„Ich bin froh, Euch alle wohlauf zu sehen“, sprach sie zwar ehrlich, aber in einem gemäßigten Ton, hatte sie doch ihrer Meinung kein Recht, das zu sagen. Immerhin – so ging sie davon aus – war sie an dem Ausmaß der Misere durch ihr plötzliches Verschwinden beteiligt. Alle waren verwundet, schienen ausgelaugt. Alle starrten. Nur der Tauren Awan erhob seine Stimme: „Und wir sind sehr froh darüber, dass du da bist, Sonnenklinge.“ Anathera brachte ein freundliches Nicken in seine Richtung zustande. Awan war stets nett zu ihr gewesen und hatte nicht Minderes verdient. Die glühenden Augen der Elfe wanderten zum Kommandant der Rabenwache, abwartend, dass er das Wort erhob. Sie mochte es nicht, im Mittelpunkt zu stehen. Threanor sah sie an, als wäre sie ein Geist. Er rührte sich weder noch sprach er ein Wort. Die Elfe ertrug die Blicke der Anwesenden stumm. Doch sah sie in ihnen nicht jene, die sie erwartet hatte. Dies waren keine vorwurfsvolle Blicke. Kein Hass, keine Missgunst. Sie waren eher voll von…Überraschung und Ungläubigkeit. „Es tut mir leid, dass wir Euch nicht früher zur Hilfe kommen konnten…“, hob Anathera schließlich erneut ihre Stimme, da niemand sonst es tat. Betretenes Schweigen folgte.
“Aber wie kommt es, dass Ihr noch lebt?!”, platzte es nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich aus Wrug heraus.
“Das ist alles verrückt…mir zu verrückt”, murmelte Seyca verwirrt vor sich hin, den Blick auf Anathera gerichtet. Auch sie schien angeschlagen, hielt sich den Arm. “Ich glaube, ich brauche Urlaub…”
“Vielleicht is' s'e untot? Eh?”, rief Xam’ji in die Menge herein, ehe ein allgemeines Murmeln und Raunen unter den befreiten Wächtern begann, Blicke, verwirrte wie auch verängstigte, die rothaarige Blutelfe durchdrangen.
„Ich verstehe nicht ganz”, erwiderte Anathera ehrlich, die Stimme bemüht ruhig. Es war nicht ihre Art, allzu schnell nervös zu werden, auch wenn ihr Herz begann, das Blut nun weitaus schneller durch ihre Adern zu pumpen.
„Ihr... Ihr lebt... Anathera...? Habe ich wieder... Wahnvorstellungen...?”, erhob nun auch Threanor das Wort. Der ehemaligen Blutritterin stand der Mund plötzlich offen. Warum glaubten alle, sie sei tot? Wahnvorstellungen? Er hatte sie doch gesehen, als sie und die Blinde seinen Geist aus der Ferne anriefen, hatte mit ihr gesprochen. Ein Blick zur Jägerin, doch diese schien nicht geneigt, jenen zu erwidern.
„Wo wir gerade von Hilfe sprechen. Eure Rettung hat mich einiges gekostet… mit wem würde ich denn hier sprechen, um mein verdientes Geld abzuholen?”, mischte sich Grivlin ein, warf Anathera einen auffordernden Blick zu. Die Lippen der Elfe kräuselten sich. Natürlich. Was würde einen Goblin sonst dazu bewegen, zu helfen? Die Reaktion des Nethermanten auf die Unsumme an Gold fürchtend, reckte sie ihr Kinn gen Threanor, ging einige Schritte auf den Elfen zu. „Mit ihm”, brachte sie über ihre Lippen, als sie vor ihm stand, ihn aus nächster Nähe ansah. „Dem Kommandant der Rabenwache.“
Der Goblin baute sich daraufhin vor dem schwarzhaarigen Elf auf. „Dieser Elf ist etwa Kommandant?”, spuckte er auf den Boden. „Ein Busch wäre eine bessere Besatzung.”
Threanor schien nicht er selbst zu sein. Seine Fingerknochen waren blutig, sein Bauch zierte eine hässliche Brandwunde, verkrustet von Blut. Anathera fühlte sich mit einem Mal elend, den Nethermanten in dieser Verfassung sehen zu müssen. Die glühenden Augen blickten in das erschöpfte Gesicht des Elfen. Seine Haare waren kürzer als das letzte Mal, dass sie ihn sah, waren stumpf und splissig. Seine einst so schönen Haare, die sie… an jemanden erinnert hatten. Traurigkeit legte sich in den Blick der Elfe. Sie widerstand dem Drang, ihre Hände wie schon einmal geschehen an sein Gesicht zu legen, um sein Leid zu lindern. Stattdessen nahm sie seine Hand, neigte demütig den Kopf in seine Richtung.
„Vergebt mir. Ich habe Euch im Stich gelassen“, sprach sie leise, Reue in jedem Atemzug.
Threanor starrte ungläubig auf seine Hand, den Blick zwischen jener und Anathera wechselnd. Der Nethermant kam gar nicht erst dazu, etwas zu erwidern. Ein unerwarteter Ruck durchfuhr den Körper der ehemaligen Blutritterin, als das breite Kreuz eines dritten Elfen sie von Threanor losriss und Anathera für sich beanspruchte. Ein Paar starker, unnachgiebiger Arme legten sich um den Oberkörper der Blutelfe. Ihr Kopf wurde zwangsläufig in der Brust des Kriegers begraben, der plötzlich vor ihr stand und sie innig umschlang. Der Geruch kam ihr nur allzu bekannt vor. „Alenjon…“, flüsterte sie leise zu dem gut einen Kopf größeren Elfen hinauf, so dass es scheinbar nur für ihn zu hören war. Der Hüne erwiderte nichts. Seine Hände befühlten ihren Rücken, griffen in ihr Haar, so als wollte er sich vergewissern, dass sie tatsächlich vor ihm stand. „Du lebst…“, flüsterte er leise. „Du lebst…“, erklang es erneut heiser aus seiner Kehle. Ehrliche Erleichterung schwang in seinen Worten mit, Freude, Dankbarkeit. Ein Gefühl in seiner Stimme, das Anathera bei ihrem Bruder so zuvor nur ein einziges Mal erlebt hatte. Und zwar an jenem Tag, an den sich wohl niemand ihres Volkes gerne zurückerinnerte.
Der Krieger nahm die Elfe einen Schritt beiseite, hielt sie behutsam an beiden Schultern fest. „Wo bist du gewesen?“, fragte er ernst, die glühenden Augen auf seine Schwester gerichtet. „Alenjon…bitte“, wich Anathera aus, den Scham in ihren Zügen, doch der Hüne hielt sie fest.
„Wir haben dich sterben sehen, Anathera.“
Eine grauenvolle Erinnerung ließ die Stimme des Kriegers erzittern. Wie vom Donner gerührt stand Anathera auf die Worte ihres Bruders hin da, blickte in das geschundene Gesicht des ihr so vertrauten Elfen. Seine Wange war vom scharfen Wüstensand aufgerissen, sein Gesicht merkwürdig aufgedunsen. Ein Anblick, den die Rothaarige von dem stolzen Krieger nicht kannte. Sein Zustand sprach Bände von den Dingen, die den Rabenwächtern in ihrer Abwesenheit widerfahren sein mussten.
„Ich bin hier, Alenjon…“, flüsterte sie, legte dem Elfen behutsam eine Hand auf die gesunde Wange. Der sonst so taffe Krieger nickte, ein Glitzern spiegelte sich in seinen Augenwinkeln, als er seine Hand auf die seiner Schwester legte. „Lass uns später reden“, murmelte ebenjene leise, ließ ihn dann los. Eine Kopfbewegung in Richtung Threanor folgte, welche Alenjon stumm zu verstehen gab, dass sie noch etwas mit dem Kommandant zu klären hatte. Der Krieger nickte, auch wenn es ihm offensichtlich nicht gefiel, seine Schwester auch nur wieder in die Nähe des Nethermanten zu lassen. Ein kaum hörbares Grollen entfuhr seiner Kehle, als er sich mit Mühe abwandte, um nach Luft zu schnappen. Er musste dringend weg von diesen Leuten, zumindest für eine Weile. Bis er das, was geschehen war, fassen konnte.
„EINHUNDERT GOLD?!”, entfuhr es Threanor laut, als Anathera die Forderung des Goblins für seine Hilfeleistung bei der Schlacht offenbarte.
„Einhundert Gold, die Eure Mutter sicher bereit gewesen wäre, für Euch zu zahlen“, erwiderte die Blutelfe in ihrem gewohnt kühlen Ton. Sie hatte tatsächlich keine Lust, über Dinge zu diskutieren, die unumkehrbar waren. Seine Zustimmung hin oder her. Hätte sie ihn in diesem Gefängnis verrotten lassen sollen? Ein Hauch von Verärgerung kroch Anathera die Kehle herauf, als der Blutelf fassungslos die Augenbrauen hob. „Ich soll... meine MUTTER nach EINHUNDERT Gold fragen...?”
„Es gab nur...diese eine Chance... ”, presste die ehemalige Blutritterin zwischen ihren Lippen hervor. Die Situation hatte ihnen keine Wahl gelassen. Ohne diese Flugmaschine hätten die Wissenden allein diese Schlacht nicht schlagen können. Im Prinzip wusste er das. Alle von ihnen, die hier versammelt waren, wussten das. Grivlin erhob daraufhin erneut das Wort. „Es interessiert mich nicht wie Ihr das Geld bekommt, so lange ich am Ende der Besitzer bin. Zinsen kommen natürlich bei Verzögerungen hinzu!“ Der schwarzhaarige Blutelf humpelte einen Schritt nach hinten, um Fassung ringend.
„Ich... muss darüber nachdenken, woher wir so viel Gold nehmen sollen... Beim Nether... So viel...? Ernsthaft?”
„Ich kann auch bei den Dämonen nachfragen wie viel Gold ich bekommen würde eure Position zu verraten...“, kicherte der Goblin böse, und irgendetwas in seiner Mimik verriet, dass er durchaus ernst meinen könnte, was er da sagte.
Der Kommandant der Rabenwache seufzte schwer, als ihn schließlich die Einsicht traf. Die Zahlung des Goldes stand nicht zur Diskussion. Die Rabenwächter lebten, und das war wohl jede Summe wert. „Ich... werde das Gold irgendwie auftreiben. Aber erst muss sich mein Trupp erholen”, sprach er dem Goblin zu, welcher ihm prompt eine dreiste Antwort unter die Nase rieb. „Freut mich zu hören. Ich werde solange bei eurem Trupp bleiben, nicht, dass ihr Eure Schulden nicht bezahlt und untertaucht“, erwiderte Grivlin, eine Augenbraue anhebend.
Anathera traute ihren Ohren kaum. Doch sie hatte weder Zeit noch Muße, sich noch länger mit dem Goblin auseinander zu setzen. Ein Nicken gen Threanor folgte, welches ihm zu verstehen gab, dass sie sich zu entfernen gedachte. Antworten. Sie brauchte...Antworten. Die kühlen Augen der Blutelfe verlangten nach der Jägerin, doch sie war verschwunden. Ein für Anathera bereits bekanntes Spiel, dessen Regeln sie nicht verstand.
Die Elfe setzte den purpurroten Kopfschutz wieder auf, wandte sich wortlos vom Geschehen ab. Sie ging ein paar Schritte abseits der Gruppe, nachdenklich. Äußerlich schien die Blutelfe gefasst, doch das Herz schlug viel zu schnell in ihrer Brust. Ein Schock, eine grobe Ahnung von dem, was geschehen war plagten ihre Gedanken, ließen ihre Hände unwillkürlich zittern. Einen stummen Entschluss fassend, hob die ehemalige Blutritterin ihren Kopf. Die glühenden Augen gingen die unmittelbare Umgebung ab, auf der Suche nach dem ihr mittlerweile so vertrauten Schatten. Sie musste erfahren, was nach ihrer Befreiung aus dem Zelt des Khans geschehen war. Die Rabenwächter hatten sie sterben sehen? Wie? Auf dem Weg zum Rand des Trolldorfes blitzten die Augen der Jägerin in ihren Gedanken auf. Leere Augenhöhlen, in denen verderbtes Felfeuer loderte. Leidenschaftlich, kompromisslos. Gefährlich. Die Dämonenjägerin kannte die Antwort, davon war die Blutelfe überzeugt. Auch wenn sie bereits ahnte, dass sie sie nicht hören wollte.