„Du schaffst es garantiert nicht auf den Baum!"
„Klar schaffe ich das!"
Cheida sprang auf den niedrigsten Ast des Baumes, der einigermaßen stabil aussah. Anarielle hielt es nicht für nötig, ihre neunjährige Tochter einzufangen. Wenn sie fiel, würde sie von allein vorsichtiger werden. Cheidas Mutter lehnte sich am runden Türrahmen an, und rührte ihren Disteltee, während sie die beiden Kinder beobachtete. Hinter ihr im Haus saß Kithai Blutfeder, Lavyrias Mutter. Die Familien Sonnensang und Blutfeder hatten sich schon immer recht gut verstanden. In den Jahrhunderten hatte sie nie etwas geändert. Die Kinder spielten zusammen, die Mütter tratschten und die Männer gingen arbeiten.
Anarielle war eine erfahrene Magistrix. Ein langes Leben der Ausbildung lag hinter ihr, und belohnt wurde sie mit ihrer wunderbaren Tochter Cheida und einem Mann, der ihr wirklich jeden Wunsch von den Augen ablas. Anarielle lächelte zufrieden, und beobachtete ihre Tochter weiter. Cheida war inzwischen bereits zur Hälfte aufgestiegen, während Lavyria unten zusah. Äußerlich waren die beiden sich recht ähnlich. Die Hautfarbe der Kinder war leicht gebräunt, die blauen Augen wach und ständig suchend nach etwas interessantem. Sogar die Haare waren gleich. Sie fielen den Rücken herab, das eine blond das andere braun. Man konnte den beiden bereits ansehen, dass sie unzertrennlich sein würden.
Das blonde Haar hatte Cheida von ihrer Mutter. Die Gewandheit dagegen verdankte sie ihrem Vater Fangrarin, der ein erfahrener Waldläufer war. Vor wenigen Tagen hatten sowohl Cheida als auch Lavyria ihre Eignungstests in der Akademie von Falthrien absolviert. Ob aus einer von beiden eine erfahrene Zauberin werden könnte, würde sich also bald herausstellen. Anarielle persönlich hoffte, dass ihre Tochter einige magische Talente mitgegeben wurden bei der Geburt. Das magische Volk von Quel’Thalas verdiente eine geborene Magierin.
„Anarielle, du wirkst bereits wieder in Gedanken. Ich sagte dir doch, du solltest das nicht mehr tun."
Kithai trat neben sie, und folgte dem Blick auf die spielenden Kinder. Inzwischen hatte Cheida einmal die Krone des mächtigen Baumes erreicht, war heruntergeklettert und weiste Lavyria nun den Weg nach oben. Lavyria war ein vorsichtiges Kindchen. Sie brauchte für jeden Handgriff mehrere Momente.
„Ich weiß, Kithai. Aber welche Mutter würde sich keine Gedanken machen?"
„Dein Sohn ist doch bereits in der Ausbildung. Es würde mich schwer wundern, wenn dein Blut nicht auch durch sie fließen würde."
„Du scheinst dir weniger Gedanken um deine kleine Lavyria zu machen."
„Ach, weißt du… Wenn sie keine Zauberin wird, dann geht sie bei ihrem Vater in die Lehre. Schmiedekunst ist ein begehrtes Fach."
Anarielle nickte nachdenklich. Sie hatte keinen Alternativplan für Cheida. Sie wollte sich nicht bereits ausmalen, was man noch alles tun kann wenn der Fehlschlag noch gar nicht sicher ist. Schweigen hüllte sich um die beiden Mütter, als sie die Kinder weiter beobachteten. Höher kletterten sie, bis beide auf den höchsten Ästen saßen, und sich gegenseitig all die interessanten Dinge zeigten die man von dort oben erblicken konnte.
„Hast du von dieser anderen Adelsfamilie gehört?" fragte Kithai nach einer ganzen Weile des Schweigens.
„Welcher genau?"
„Schattenernter. Sie zogen in die Gegend hier. Etwas abseits. Die meisten sagen, bei denen wäre etwas nicht in Ordnung."
„Wie heißt der werte Herr der Familie?"
„Mh… Wenn ich mich nicht täusche war es Hilderil."
Anarielle überlegte kurz. Das Machtspiel von Silbermond reichte glücklicherweise nur selten in die kleineren Dörfer. Hier in Goldnebel war die Familie Sonnensang zwar angesehen, und von adeligem Blute, aber nicht wichtig genug um in die düsteren Geschäfte der Hauptstadt einbezogen zu werden. Das schaffte eine gewisse Ruhe. Dass nun eine andere Adelsfamilie in die Gegend zog, konnte nichts gutes bedeuten.
Trotzdem lächelte Anarielle.
„Dann lass uns die Neuankömmlinge doch in den nächsten Tagen willkommen heißen. Ich besorge den Wein, und du etwas zu essen."
Kithai nickte, ein Lächeln brachte sie nicht zustande. Sie war schon immer schlechter im aufsetzen der Maske gewesen, die einer Magistrix wie Anarielle schnell zur Gewohnheit wurde. Als Magistrix hatte Anarielle zwar mehr Stimmrecht als Kithai, dies bedeutete jedoch keineswegs dass sie talentierter war.
Sie respektierte Kithai Blutfeder. Und sie wusste, dass sie selbst respektiert wurde.
Wiedermals wurde der Blick von Anarielle von den Kindern eingefangen. Sie kletterten den letzten Ast wieder herunter, und gingen schnellen Schrittes auf ihre Mütter zu. Das Ende des Gesprächs bekam Anarielle noch mit. Cheida hatte in ihrer selbstsicheren Art einen unverkennbaren Unterton.
„Natürlich könnte ich auch blind auf die Krone klettern! Irgendwann werde ich es dir beweisen, Lavyria!"
„Glaub ich dir gar nicht! Wenn du fällst wirst du dir den Hals brechen!"
„Entscheide dich! Willst du mich mal blind klettern sehen?"
Lavyria grinste unentschlossen ob Vorsicht oder Neugier siegen sollte. Als die Kinder ins Haus traten, folgten die Mütter der beiden und Anarielle zog den Vorhang zu.
144 Jahre später.
Die blinde Elfe trat vor den alten Baum. Er war noch größer geworden. Musternd blickte sie hinauf zur Krone des Riesen, und machte sich an den Aufstieg. Die Griffe um die Äste waren vertraut und so geschickt wie vor all den Jahren als die Elfe mit ihrer besten Freundin hier war. Ast um Ast kletterte sie sich nach oben, in Gedanken bei jenem Tag an dem sie ihrer Freundin versprochen hatte, blind hier hochzuklettern.
Sie würde heute ihr Versprechen einlösen.
Nur wenige Momente länger dauerte es, den Baum der Länge nach hochzuklettern. Innerlich schimpfte sich die blinde Elfe aus. Das konnte sie schon als Kind besser. Flink wurde ein Dolch aus dem Gürtel gezogen, und mit schnellen Bewegungen elfische Worte in den Stamm geritzt. Einen kurzen Moment noch wurde der schönen Erinnerung an den Tag vor über einem Jahrhundert nachgegangen, dann machte sich die blinde Elfe bereits wieder auf den Abstieg.
Ein weißer Falke landete auf dem Ast, auf dem die Elfe eben noch stand. Er folgte der blonden, die sich bereits wieder auf ihren Schreiter schwang um davonzureiten. Der Falke wusste, dass er nur wenig Zeit haben würde um seiner Herrin zu folgen. In Eile sah das Tier der Lüfte zu den Worten, die es nicht lesen konnte, bevor es sich zum Fluge begab um der Elfe zu folgen.
„In Erinnerung an die guten Zeiten, die immer einen Platz in meinem Herzen haben werden. Genau wie die Freundin, mit der ich sie teilen durfte. Lavyria, ich werde dich nie vergessen."